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Deutschlands „Sturmproblem“

10 Aug

Zum ersten Mal geht es in diesem Blog heute um ein Thema, das nicht explizit VfB-bezogen ist. Schließlich wollen wir hier ja auch durchaus den Blick mal auf Angelegenheiten des Fußballs allgemein werfen.

Anlaß ist in diesem Fall ein Artikel der heute auf der von mir eigentlich relativ geschätzten Seite http://www.spox.com erschienen ist und mich zugegebenermaßen etwas sauer gemacht hat. Denn wenn es eines gibt, was ich wirklich hasse, dann ist des Panikmache, die auf fadenscheinigen „Argumenten“ basiert, die sich bei genauerem Hinsehen aber als falsch entpuppen – etwas was man ursprünglich vor allem aus den Boulevardmedien kennt, aber mittlerweile eigentlich beinahe überall anzutreffen ist.

Kommen wir aber nun zum konkreten Corpus Delicti, dass Anlass für meinen Ärger ist: „Deutschland hat ein Sturmproblem: Die große Leere“ nennt sich der besagte Artikel, der auf spox heute von Autor Stefan Rommel veröffentlicht wurde. Darin versucht er sich an einer Zustandsbeschreibung der Situation im Sturm der deutschen Nationalelf mit Blick auf die Zukunft.

Das ist ja auch soweit logisch. Denn bei gerade einmal drei fürs Spiel gegen Aserbaidschan nominierten Stürmern, von denen einer auch noch angeschlagen ist, kann man hier schon mal zarte Nachfragen stellen. Und die Argumentationskette, die Rommel entwirft, ist auch durchaus verführerisch:
Als einzige Alternative zur Nachnominierung für den verletzten Podolski wäre Kießling in Frage gekommen. Dahinter allerdings befindet sich laut Rommel vor allem Leere in der Bundesliga: Nach seiner Rechnung gibt es 85 Bundesligastürmer, von denen gerade einmal 22 Spieler einen deutschen Pass besitzen und von denen dann wiederum „nur gut die Hälfte als Stammspieler gesetzt sind“.
Zumal aus diesem Pool dann auch noch der am Wochenende erfolgreichste Stürmer, Kevin Kuranyi, ausgeschlossen werden muss, da er bei Löw wohl eher keine Chancen mehr bekommt. Und außerdem fällt Helmes erst einmal monatelang aus.

Neben dieser Legionärsproblematik bringt Rommel dann unter dem Eindruck der U21-EM auch noch den mangelnden Nachwuchs ins Spiel. Schließlich hat Deutschland dort teilweise ohne einen nominellen Stümer gespielt, und der einzig wirkliche Stürmer, Sandro Wagner, spielt nur in der zweiten Liga bei Duisburg. Und auch die zwei anderen Stürmer der Jahrgänge ’89 bis ’91, Thomas Müller und Richard Sukuta-Pasu hätten derzeit keine Stammplatzchancen.

Wie gesagt, auf den ersten Blick erscheint das alles recht schlüssig und man könnte tatsächlich beinahe meinen, dass Deutschland hier vor einem großen Problem in der Zukunft steht.

Das ist aber, mit Verlaub gesagt, ziemlicher Bullshit, da hier ein entscheidender Fakt völlig außer Acht gelassen wird, der diese Argumentationskette ziemlich in sich zusammenfallen lässt.

Schauen wir uns doch mal die derzeitigen Nationalspieler an:

Stammspieler Miroslav Klose ist momentan 31 Jahre alt und damit der einzige derzeitige Nationalstürmer über 30 Jahre. Womöglich ist die WM in Südafrika sein letztes großes Turnier, bei gleich bleibenden Leistungen und sofern es die Gesundheit erlaubt, wäre es aber auch nicht erstaunlich wenn er als 34jähriger auch noch 2012 dabei sein könnte.

Stammspieler Mario Gomez ist im vergangenen Monat 24 Jahre alt geworden. Er wird also, unter der Voraussetzung, dass die Entwicklung der letzten Jahre auch bei Bayern so weiter geht, noch locker 4 Turniere spielen können. Selbst bei der WM 2018 wäre er lediglich 33 Jahre alt.

Gleiches gilt für den einen Monat früher geborenen Lukas Podolski, der zwar nun eine eher harte Zeit bei Bayern hinter sich hat, aber selbst dann hat er in der Nationalelf regelmäßig gute Leistungen abgeliefert. Auch er wäre also bei der WM 2018 gerade 33 Jahre.

Der oben angesprochene, derzeit verletzte Patrick Helmes ist Jahrgang 1984 (wäre bei der EM 2016 also etwa so alt wie Klose bei der kommenden WM) und bei halbwegs normalem Genesungsverlauf und einem entsprechenden Comeback, dürfte auch er für die WM in Südafrika, wie die drei vorher genannten gesetzt sein und damit einen Sturm bilden, der in den letzten 16 Jahren selten so gut und vor allem so JUNG besetzt gewesen ist.

Um Platz 5 werden sich vermutlich zwei Spieler streiten, so wie es derzeit aussieht.
Helmes‘ Teamkollege Stefan Kießling hat dabei den Vorteil der Jugend auf seiner Seite, denn auch er ist erst 25 Jahre alt und hätte demnach ebenso noch locker 4 Turniere vor sich, die er spielen könnte.
Der andere Kandidat ist Cacau, der immerhin schon 28 Jahre auf dem Buckel hat, also voraussichtlich noch drei Turniere spielen könnte. Allerdings hat Cacau in der deutschen Öffentlichkeit nicht die ganz große Lobby, und sein größtes Faustpfand (abgesehen von einer soliden Torquote über Jahre hinweg) ist wohl ohnehin, dass er mehrere Jahre an der Seite von Gomez spielte, mit dem er sich nahezu blind versteht.

Wir halten also an dieser Stelle fest, dass selbst wenn es jetzt ein akutes Nachwuchsproblem gäbe, dann könnte man mit dem jetzigen Sturm also recht problemlos die kommenden zwei Turniere spielen, und ein Grundgerüst von VIER guten bis potentiell exzellenten Stürmern hätte man sogar bis mindestens zur Europameisterschaft 2016 verfügbar!

Das würde also bedeuten, dass wir dringenden Bedarf für wirklich gute Nachwuchsstürmer erst zur Qualifikation für die WM 2018 hätten. Ein Turnier, dessen Austragungsort noch nicht einmal feststeht. Und eben eine Qualifikation, die dann *beginnt*, wenn die Jahrgänge ’89 bis ’91 schon satte 25-27 Jahre alt sind.

Das heisst also, es ist eigentlich völlig irrelevant, dass ein Sandro Wagner (0der auch ein von Rommel nicht beachteter Rouwen Hennings) zum jetzigen Zeitpunkt „nur“ Stammspieler in der zweiten Liga ist. Oder auch, dass ein Sukuta-Pasu oder ein Thomas Müller in der Bundesliga bei ihren Teams noch nicht den großen Druchbruch geschafft haben. Denn sie haben eines, was Herr Rommel bei der Recherche seines Artikels leider nicht hatte: Zeit.
All diese Spieler haben locker noch drei Jahre, bis sie sich wirklich etabliert haben müssten (wenngleich ein früheres Durchsetzen auch gewiss nicht negativ wäre).

Und um zum Beinahe-Abschluss noch ein wenig Namedropping zu machen: Zu besagten Jahrgängen ’89-’91 zählen daneben noch ein André Schürrle, der bei Mainz gerade seinen ersten Bundesligaeinsatz absolviert hat (kicker-Note 2,5), ein Fabian Bäcker, der in 48 A-Jugend-Buli-Einsätzen 42 Tore erzielt hat oder ein Daniel Ginczek, der mit 17-18 Jahren in der zweiten Mannschaft von Borussia Dortmund vergangenes Jahr 10 Tore in 16 Regionalliga-Einsätzen erzielt hat. Dazu kommen dann noch Savio Nsereko, der bei U19-EM im vergangenen Jahr zum besten Spieler gewählt wurde und mittlerweile bei West Ham United unter Vertrag steht, wo er schon 10 Kurzeinsätze in der Premier League absolviert hat.

Zu guter Letzt sei noch auf einen Aspekt hingewiesen, den man in dieser Diskussion vielleicht auch noch einbringen kann, der aber beispielsweise von Herrn Rommel auch komplett ausgeblendet worden ist. Nicht zuletzt die U21-EM hat ja gezeigt, dass es durchaus auch mit nur einer Sturmspitze gehen kann, in einem System mit zwei vorgezogenen offensiven Mittelfeldspielern beispielweise. Und da, das wird vielleicht Herr Rommel auch so sehen, herrscht derzeit ein durchaus gutes Angebot an Talenten.

Selbstverständlich ist das alles sehr theoretisch und es gibt recht viele Konjunktive in diesem Text. Schließlich kann es durchaus passieren, dass Helmes nach seinem Kreuzbandriss nie wieder der Alte sein wird oder ein Gomez nachhaltig am Druck in München zebricht oder ein Klose nach der WM 2010 zurücktritt.
Aber so ist das nun mal, wenn man versucht in die Zukunft zu blicken, denn da kann man eben nur ein wenig spekulieren, schließlich weiß da nur der Terminator wirklich drüber Bescheid.

Wenn man aber spekulieren möchte, gerade als Journalist, dann sollte man sich intensiv drum bemühen, so nah wie möglich an den Fakten zu bleiben, die man tatsächlich überprüfen kann. Und das hat Rommel meines Erachtens entweder sträflich vernachlässigt, oder aber bewusst so gewählt, um kurz vor dem Länderspiel eine billige Polemik zu verfassen. Ersteres wäre schon äußeres kritikwürdig, sollte es zweiteres sein -aus welchen Beweggründen auch immer-, dann wäre es absolut verachtenswert.

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Zum Abschluss noch ein wenig Statistikkram, in Form einer Liste von den Sturmaufgeboten bei Turnieren ab der WM 1990. Nach dem Klick.